>> PRESIDENT: Bitte, Herr Lauer
(Pause) 0:00:73.620,0:00:10.130 >> LAUER: Ja, wie viel Zeit habe ich denn noch? 18:01, wunderbar.
>> PRESIDENT: 10 Minuten
>> LAUER: Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrter
Herr Wowereit.
Andreas hat in seiner Rede den programmatischen Aspekt der Regierungserklärung beleuchtet
und ich moechte hier an dieser Stelle das Wort ergreifen, um auf einige grundsätzlichere
Dinge hinzuweisen. Die Piratenfraktion ist seit September letzten Jahres Bestandteil
dieses Hauses und nach der anfaenglichen Euphorie und den Bekenntnissen seitens der bereits
im Haus vertretenen Parteien, jetzt etwas an ihrem Politikstil zu aendern scheint sich
langsam der Alltagstrott wieder eingeschlichen zu haben.
Ich kann Ihre Hoffnung verstehen, dass wir uns eher Ihnen anpassen, als Sie sich uns,
aber auch diese platte Schwarz/Weiß-Logik greift zu kurz. Der Einzug der Piratenpartei
ins Berliner Abgeordnetenhaus markiert eine Zäsur. Mit uns ist eine Partei eingezogen,
deren Mitglieder durch die neuen Medien, durch das Internet sozialisiert worden sind. Das
ist ein Fakt der anzuerkennen ist wenn man verstehen möchte, mit welchem Befremden wir
auf das Geschehen in diesem Haus blicken. Wir sind in einer Welt aufgewachsen, die jedem,
der sie betreten wollte, eine neutrale Plattform zur freien Entfaltung bot. Natürlich birgt
diese Welt, das Internet, Gefahren, aber nennen Sie mir einen Ort, auf den dies nicht zutrifft.
Wir haben die Chancen des Internets immer als größer wahrgenommen. Und die Chancengleichheit
in der physikalischen Welt, von der in vielen Wahlprogrammen und auch dieser Regierungserklärung
und heute geredet worden ist, die ist im Internet umgesetzt. Denn dort interessiert es tatsächlich
niemanden aus welchem Land sie kommen, welches Geschlecht sie haben oder welcher Religion
sie angehören. Sie müssen nur durch die Dinge die sie tun überzeugen. Eine solche
Parallelgesellschaft und ich benutze dieses Wort hier ganz bewusst, wird in dem Moment
umso wichtiger, in dem immer mehr Bürgerinnen und Bürger in unserer Gesellschaft durch
das Raster fallen oder sich nicht in die vorgefundenen Gesellschaftsnormen pressen lassen wollen.
Mit den Piraten haben doch nicht die Klassenlieblinge die politische Bühne betreten, sondern die
Nerds, die Außenseiter, diejenigen, die in der Schule nicht zu den Parties eingeladen
worden sind, diejenigen, die nicht in der Mitte der Gesellschaft standen. Ja, und Sie
haben in diesem Haus von Solidarität gesprochen, und machen bei sowas 'Oh'. Sie sollten sich
schämen! Wir mussten uns in unserer (...) Ich habe leider meine Kresse vergessen;
wenn ich die Kresse dabei hätte, könnten Sie sie hier vorne abholen und dann die
Kresse halten.
Wir befinden uns durch das Internet gerade mitten im Auge des Sturms einer gesamtgesellschaftlichen
Entwicklung, deren Ende wir noch nicht absehen können. Die gesellschaftlichen Veränderungen,
die das Internet als Technologie (...)
>> PRESIDENT: Herr Lauer, ganz kurz, Verzeihung. Aber, meine Damen und Herren, Zwischenrufe
ist eine Sache. Ein dauerhafter Geräuschpegel ist eine andere, bitte lassen sie das.
>> LAUER: Ich komme ja gleich zur Sache. Wir befinden uns durch das Internet gerade mitten
im Auge des Sturms einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, deren Ende wir noch nicht absehen
können. Die gesellschaftlichen Veränderungen, die das Internet als Technologie verursacht,
sind aber spürbar und wir sollten es uns nicht nehmen lassen diese Veränderungen zu
gestalten. Das Internet zerstört schonungslos die Paradigmen des 19. & 20. Jahrhunderts.
Was ist Wissen, was ist Arbeit, was ist Qualifikation in einer Welt, in der mir alle Informationen
per Knopfdruck zur Verfügung stehen? Wir beschäftigen uns bisher allenfalls mit den
Symptomen einer sich verändernden Welt. Wir müssen aber Anfangen uns mit den Ursachen
auseinanderzusetzen. Dabei können wir nicht mit Lösungen aus dem 20. Jahrhundert auf
die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts reagieren.
Das Internet kann mittlerweile mehr. Es ist nicht nur Google und eBay, sondern auch die
demokratische Beteiligung vieler. Als Parlament dürfen wir die technologischen Sprünge der
letzten Jahre nicht ignorieren. Das Problem ist, dass dieses Haus keine Innovationen belohnt.
Wieso sollte es auch, es geht hier um Beständigkeit und es geht in dem Moment, in dem 149 Menschen
als gewählte Volksvertreter 3,5 Millionen Berlinerinnen und Berliner vertreten auch
um eine Reduktion von Komplexität. Ja und es geht um Macht. In dem Moment, in dem dieses
Haus die Beteiligung der Bürger am politischen Prozess beschließt geht es natürlich auch
um die Angst, sich selbst abzuschaffen.
Aber da kann ich Sie beruhigen: Wir haben uns schon längst geschafft mit dem Abschaffen.
Denn was bedeutet ihre Regierungserklärung denn eigentlich Herr Wowereit? Sie haben heute
verkündet, was in den nächsten fünf Jahren passieren soll. Wie wird es passieren? Durch
Gesetze. Wer beschließt diese Gesetze? Dieses Haus. Aber: Wo werden diese Gesetze geschrieben?
Wer von den hier anwesenden Abgeordneten ist denn Herr oder Frau Referentenentwurf? Wo
sitzt denn der Referent? Der sitzt in der Verwaltung. Es ist traurige Realität, dass
dieses Haus seiner Verfassungsmäßigen Aufgabe, Gesetze aus seiner Mitte entstehen zu lassen,
nicht mehr nachkommt. Die traurige Realität wird es sein, dass jede Änderung in den nächsten
fünf Jahren aus dem Senat kommen und in diesem Haus von Seiten der Koalition mal mehr, mal
weniger Zähneknirschend abgenickt werden wird. Und die Opposition wird schreien. Und
die Opposition wird Vorschläge machen und die Koalition wird schreien. Und hier spreche
ich explizit die Hinterbänkler in den Fraktionen an: Habt ihr euch das so vorgestellt, ist
es euch das Wert? Fünf Jahre lang das abzunicken was Herr oder Frau Referentenentwurf in irgendeiner
Senatsverwaltung geschrieben haben? Das Freie Mandat, verfassungsmäßig verankert,
wird im Abgeordnetenhaus von Berlin Woche um Woche zur Makulatur. Wer hat denn hier
noch das Rückgrat, seiner Fraktion öffentlich zu widersprechen?
Dieses Unterordnen unter die Fraktion, die sich wiederum dem Senat unterordnet, das ist
eine Gefahr für die Demokratie. Wenn wir hier von den Gefahren des Lobbyismus und mehr
Transparenz im Haus sprechen, dann verkennen wir, dass der Lobbyist zu demjenigen geht,
der das Gesetz schreibt und nicht etwa zu dem, der das Gesetz nur noch abzunicken hat.
Es finden in diesem Haus keine Debatten mehr statt, sondern ein auf Koalition und Opposition
verteiltes Kasperletheater. Es findet eine Machtkonzentration auf den Senat statt, die
nicht gesund ist. Angesichts der Herausforderungen, vor der die Stadt Berlin steht ist es bemerkenswert,
dass wir als Parlamentarier, die lediglich ihrem Gewissen verpflichtet sind, uns so etwas
gefallen lassen. Die Lösung ist einfach wie radikal. Die Landesverfassung
sagt im § 59 Absatz (2): Gesetzesvorlagen können aus der Mitte des Abgeordnetenhauses,
durch den Senat oder im Wege des Volksbegehrens eingebracht werden. Lassen Sie und gemeinsam
„durch den Senat“ streichen. Lassen sie uns die Mitglieder dieses Hauses mit der Expertise
ausstatten, dass wir wieder in der Lage sind, die Gesetze zu schreiben, damit hier tatsächliche
Debatten stattfinden, Sachbezogen und über das Kleinklein von Parteigrenzen hinweg. Versuchen
Sie sich einmal vorzustellen, wie motivierend es sein kann, wenn man nach harter Debatte
ein Gesetz durchgebracht hat, an dem man mit Herzblut gearbeitet hat.
Aber mir ist natürlich klar: Das ist nur Wunschdenken. Sie werden sich im Anschluss
an meine Rede genug Gründe herbeiargumentieren um zu erklären, warum das System, dass wir
seit über 50 Jahren haben gut ist und so weitergeführt werden muss. Sie werden sich
vor allem selbst erklären, dass sie eine wichtige Rolle in dem spielen, was hier in
diesem Haus stattfindet. Und selbst wenn das, was ich hier grade gesagt habe bei Ihnen angekommen
sein sollte, dann werden Sie sich nicht trauen innerhalb ihrer Fraktion, innerhalb ihrer
Partei darüber zu diskutieren. Im Wahlkampf hatten wir ein Plakat Warum häng ich hier
eigentlich, ihr geht doch eh nicht wählen? Analog dazu könnte man u?ber dieses Rednerpult
eins mit der Inschrift Warum rede ich hier eigentlich, ich weiß doch eh, wie ihr abstimmt
hängen. Der Erfolg der Piratenpartei ist auch das Ergebnis einer Vertrauenskrise in
unser repräsentatives, parlamentarisches System. Die Bürgerinnen und Bürger Berlins
kämen doch nicht auf die Idee nach mehr Beteiligung zu verlangen, wenn sie das Gefühl hätten,
dass sie hier im Sinne einer Volksvertretung vertreten werden. Hat sich hier noch nie jemand
die Frage gestellt, warum sich Menschen, für die Strom aus der Steckdose und Geld aus dem
Automaten kommt auf einmal Interesse daran haben, sich politisch zu beteiligen?
Wenn wir die Berlinerinnen und Berliner aber davon überzeugen möchten, dass die demokratische
Repräsentation durch Volksvertreter Notwendig ist, dann sollten wir alle sehr schnell damit
anfangen Gründe zu liefern. Mit einem Weiter wie bisher wird das nicht funktionieren.
Vielen Dank
>>PRESIDENT: Vielen Dank